Es gibt in jeder Sprache Fälle, in denen bei zwei verschiedenen Phonen nachgewiesen werden kann, dass sie nicht bedeutungsunterscheidend sind. Man sagt dazu auch, dass sie nicht distinktiv sind. Es handelt sich dabei um Allophone.
Die meisten meiner Videos eignen sich auch als Einstieg in die Linguistik, für dieses Video hier benötigst du aber ein ganzes Paket an Vorwissen. Du solltest schon wissen, was Phone (also Laute) und Phoneme sind. Minimalpaare sollten dir auch etwas sagen und aus dem Bereich der Phonetik sollte dir klar sein, was Artikulationsort, Artikulationsart und Stimmbeteiligung bedeutet. Zudem sollten dir die Konsonanten [ç] und [x] etwas sagen. Legen wir los!
Wenn bei zwei verschiedenen Phonen nachgewiesen werden kann, dass sie nicht bedeutungsunterscheidend sind, handelt es sich um Allophone. Im Deutschen gibt es zum Beispiel die Phone [ç] und [x]. Den [ç]-Laut in den Wörtern: „Licht“, „lächeln“ und „Nächte“ könnte man auch als [x]-Laut aussprechen, ohne dass sich die Bedeutung ändert. Klingt zwar komisch, aber geändert hat sich die Bedeutung nicht.
Wenn man den Laut [ç] jetzt aber im Wort „Licht“ durch den Laut [s] auswechselt, entsteht sehr wohl ein neues Wort mit einer neuen Bedeutung: „List“. [ç] und [s] sind also eindeutig Phoneme, sie sind Minimalpaare. Halten wir fest: die Phone [ç] und [x] sind nicht distinktiv, also nicht bedeutungsunterscheidend, während [ç] und [s] zum Beispiel sehr wohl bedeutungsunterscheidend sind.
Wenn wir uns jetzt einmal ansehen, wann im Deutschen der Laut [ç] und wann der Laut [x] gesprochen wird, dann fällt auf, dass [x] nach den Vokalen [a], [o], [u] und dem Diphthong [au] steht, [ç] nach allen anderen Lauten.
Dach – dich
Loch – Löcher
Kuchen – Küche
Es gibt also ganz klare Regeln, wann ein [ç] und wann ein [x] gesprochen werden muss. Das bedeutet aber auch, dass dort, wo [x] steht, niemals [ç] stehen kann und umgekehrt. Es gibt kein einziges deutsches Wort, in dem auf einen der Vokale [a], [o] [u] oder [au] der Laut [ç] folgt. Man sagt dazu, dass die beiden Laute eine komplementäre Distribution haben. Sie schließen sich sozusagen gegenseitig aus.
Wenn man eine komplementäre Distribution nachgewiesen hat, kann man aber noch nicht sagen, dass es sich um zwei Allophone handelt. Es muss noch ein weiteres Kriterium zutreffen, und das ist phonetische Nähe. [ç] und [x] sind sich phonetisch sehr ähnlich. Beide Laute sind vom Artikulationsort (palatal/velar) wie auch der Artikulationsart (es sind stimmlose Frikative) eng benachbarte Laute. Wenn also bei zwei Phonen:
1. phonetische Nachbarschaft
und
2. komplementäre Distribution
gegeben ist, handelt es sich um Allophone, und noch genauer ausgedrückt: „um kombinatorische Varianten ein und desselben Phonems“. [ç] und [x] sind also kombinatorische Varianten des Phonems /ç/.
Warum aber ist das Kriterium der phonetischen Ähnlichkeit wichtig? Sehen wir uns dazu die Laute [h] und [ç] an. Diese beiden Laute stehen (fast immer) in komplementärer Distribution. [h] kann nur am Wortanfang auftreten: „Haus“, „heiß“, aber niemals am Ende eines Wortes. [ç] kommt aber am Ende eines Wortes vor: „lang“, „Ding“, aber eben niemals am Anfang. Es sind aber keine Allophone desselben Phonems, weil [h] und [ç] phonetisch sehr unterschiedlich sind. [h] ist ein stimmloser glottaler Frikativ, [ç] ein stimmhafter velarer Nasal.
Bisher haben wir besprochen, dass die Verteilung von Phonen immer anhand von Regeln abgeleitet werden muss. Es gibt aber noch eine andere Form der Allophone.
Wenn die Verteilung zweier Allophone nicht wie bei dem Beispiel [ç] und [x] vorhersagbar ist, weil es klare phonologische Regeln gibt, die beschreiben, wann welcher Fall auftritt, dann sind es fakultative Varianten, die man auch „freie Varianten“ nennt. Das bedeutet, dass man als Sprecher nach seinem freien Willen entscheiden kann, welches Phon man auswählt, ohne dass sich die Bedeutung ändert.
Ein Beispiel im Deutschen ist das Zungen-R [r] und das Zäpfchen-R [?], die freie Varianten des Phonems /r/ darstellen. Je nach Dialekt entscheidet man sich für eine freie Variante. Allerdings ist es fraglich, ob die Wahl zwischen diesen Lauten wirklich so frei ist, weil die jeweilige Aussprache dialektabhängig ist. [ro?t] kommt in süddeutschen Dialekten vor und [?o?t] in vielen Dialekten im Norden. Wenn es innerhalb eines Dialekts freie Variationen gibt, dann spielen oft andere Faktoren eine Rolle, die die Aussprachevariante erklären, z. B. Sprechstil oder Sprechgeschwindigkeit. Soziolinguisten stellen also freie Variation infrage und sind der Meinung, dass es das gar nicht gibt.
Quellen
Eisenberg, P. (2009). Das Phonem und Graphem. In: Dudenredaktion (Hrsg.): Duden. Die Grammatik (8. überarbeitete Aufl., S. 19 – 56). Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag.
Spillmann, H. O. (2000): Einführung in die germanistische Linguistik. Langenscheidt.
Šileikait?-kaishauri, D. (2015). Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen.
Hall, T. (2000). Alan: Phonologie. Eine Einführung.