Sprechakte verstehen: Wie Sprache zur Handlung wird

Die Theorie der Sprechakte revolutionierte das Verständnis von Sprache. Lange konzentrierte sich die traditionelle Linguistik auf Syntax und Semantik – wie Sätze aufgebaut sind und was sie bedeuten. Doch dann rückte mit dem britischen Philosophen John L. Austin eine neue Perspektive in den Vordergrund: Was tun wir eigentlich, wenn wir sprechen?

Als Quelle verwenden (APA)

Methling, R. (2025, 23. Juli). Sprechakte verstehen: Wie Sprache zur Handlung wird. https://www.linguistik.online. Abgerufen am XX.XX.20XX, von https://linguistik.online/sprechakte/

Austin argumentierte in seinem bahnbrechenden Werk How to Do Things with Words, dass man mit Sprache nicht nur beschreibt, sondern handelt. Wenn jemand sagt: „Ich verspreche dir, morgen zu kommen“, dann ist das kein bloßer Satz, sondern eine Handlung. Sie drückt ein Versprechen aus. Sprache wird zur Aktion. Das ist der Kern der Sprechakttheorie.

Austin unterschied dabei drei grundlegende Ebenen:

  1. Lokutionärer Akt – die sprachliche Äußerung an sich.
  2. Illokutionärer Akt – die beabsichtigte kommunikative Funktion (z. B. eine Bitte).
  3. Perlokutionärer Akt – die Wirkung auf den Hörer (z. B. Überzeugung, Furcht, Freude).

Performative Verben und ihre Funktion

Austin stellte fest, dass viele Aussagen nicht primär der Informationsweitergabe dienen. Wenn jemand sagt „Ich warne dich“, dann beschreibt er nicht nur einen Sachverhalt, sondern übt die Handlung des Warnens aus. Solche Ausdrücke nannte er performative Äußerungen. Ein berühmtes Beispiel:

  • Ich erkläre euch zu Mann und Frau.

Bei erklären handelt es sich um ein perfomatives Verb. Es zeigt eindeutig an, dass es sich um eine performative Äußerung handelt. Anders performative Verben sind z. B. versprechen, warnen, entschuldigen, gratulieren oder ernennen.

Ein einfacher Test, ob ein Satz performativ ist, besteht darin, das Wort hiermit einzufügen:

  • Ich verspreche dir, morgen alles nachzureichen.
  • Hiermit verspreche ich dir… ➡️ Funktioniert? Dann ist es ein performativer Akt.

Glückensbedingungen: Wann ein Sprechakt „funktioniert“

Nicht jede Äußerung führt automatisch zum gewünschten Effekt. Damit ein Sprechakt erfolgreich ist, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Es sind die sogenannten Felicity Conditions (oder auch Gelingensbedingungen). Der Begriff beschreibt, wann eine performative Äußerung als „felicitous“ (gelungen) oder „infelicitous“ (misslungen) gilt.

Im Gegensatz zu normalen Aussagen wie Es regnet, die wahr oder falsch sein können, sind performative Äußerungen nicht wahrheitsfähig. Sie können nur gelingen oder misslingen, je nach Kontext und Erfüllung der Bedingungen.

Austin unterschied dabei verschiedene Typen von Glückensbedingungen je nach Art des Sprechakts.

1. Glückensbedingungen für Deklarationen

Beispiel: Ich erkläre euch zu Mann und Frau.

Vollständige Ausführung:
Der Sprechakt wird korrekt und ohne Unterbrechung durchgeführt.

Konventionalität der Prozedur:
Der Sprechakt folgt einer anerkannten sozialen Konvention (z. B. eine Trauung).

Angemessene Teilnehmer & Umstände:
Die Person, die die Äußerung macht, ist befugt (z. B. ein Standesbeamter), und der Kontext ist korrekt (z. B. im Standesamt, nicht auf der Straße).

2. Glückensbedingungen für Bitten und Aufforderungen

Beispiel: Könntest du bitte das Fenster schließen?

  1. Propositionaler Inhalt:
    Der Sprechakt bezieht sich auf eine zukünftige Handlung des Hörers.
  2. Vorbedingungen:
    • Der Sprecher glaubt, dass der Hörer in der Lage ist, die Handlung auszuführen.
    • Es ist nicht offensichtlich, dass der Hörer die Handlung von sich aus tun würde.
  3. Aufrichtigkeitsbedingung:
    Der Sprecher möchte wirklich, dass der Hörer die Handlung ausführt.
  4. Essentielle Bedingung:
    Die Äußerung gilt als ernsthafte Aufforderung.

3. Glückensbedingungen für Warnungen

Beispiel: Ich warne dich, sag das nicht!

  1. Propositionaler Inhalt:
    Die Warnung bezieht sich auf ein zukünftiges Ereignis.
  1. Propositionaler Inhalt:
    Die Warnung bezieht sich auf ein zukünftiges Ereignis.
  2. Vorbedingungen:
    • Der Sprecher glaubt, dass das Ereignis eintreten wird und für den Hörer schädlich ist.
    • Es ist nicht offensichtlich, dass der Hörer sich der Gefahr bewusst ist.
  3. Aufrichtigkeitsbedingung:
    Der Sprecher glaubt wirklich, dass das Ereignis für den Hörer nachteilig ist.
  4. Essentielle Bedingung:
    Die Äußerung dient dem Zweck, den Hörer auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen.

Warum sind Glückensbedingungen wichtig?

Die oben genannten Bedingungen zeigen: Nicht der Satz an sich, sondern der Kontext, die Absicht und die soziale Einbettung entscheiden, ob ein Sprechakt gelingt.

Wenn z. B. ein Passant auf der Straße Ich erkläre euch zu Mann und Frau sagt, scheitert der Akt, weil die nötigen Bedingungen (Befugnis, Ort, Kontext) fehlen.

Glückensbedingungen machen deutlich, dass Sprache immer in soziale Praktiken eingebettet ist und ihr Erfolg davon abhängt, ob die konventionellen Regeln dieser Praktiken eingehalten werden.

Warum Sprechakte mehr als nur Sprache sind

Sprache allein genügt nicht. Wer z. B. ruft Feuer!, kann Panik auslösen, auch wenn gar kein Brand besteht. Der Kontext, die Absicht des Sprechers und die Reaktion des Publikums sind entscheidend. Daher ist die Theorie der Sprechakte eng mit der Pragmatik verbunden. Sie befasst sich mit Sprache im Gebrauch.

Die drei Ebenen eines Sprechakts

Lokutionärer Akt: Die sprachliche Äußerung

Der lokutionäre Akt beschreibt das bloße Aussprechen eines Satzes mit grammatikalischer und semantischer Korrektheit. Zum Beispiel: Es regnet. Diese Äußerung ist eine Aussage, die sprachlich korrekt formuliert ist.

Illokutionärer Akt: Die beabsichtigte Handlung

Hier beginnt der spannende Teil: Die illokutionäre Kraft ist das, was mit der Äußerung getan wird. Wenn ich sage Es regnet. mit dem Ziel, dass du einen Regenschirm mitnimmst, dann vollziehe ich indirekt eine Aufforderung, obwohl der Satz grammatikalisch eine Aussage bleibt.

Beispiele für illokutionäre Akte:

  • Ich verspreche, morgen zu helfen ➡️ Versprechen
  • Könntest du das Fenster schließen? ➡️ Bitte
  • Schön, dass ihr wieder dabei seid! ➡️ Lob und Freude

Perlokutionärer Akt: Die Wirkung auf den Hörer

Der perlokutionäre Akt ist die tatsächliche Wirkung auf den Zuhörer. Hat meine Aufforderung Erfolg gehabt? Hast du den Regenschirm geholt? Wurde der Hörer überzeugt, eingeschüchtert oder motiviert?

Beispiel:

  • Wenn du nicht isst, rufe ich deine Eltern an!

➡️ Die Illokution ist eine Drohung; die Perlokution könnte Angst oder Widerstand sein.

Klassifikation illokutionärer Akte nach Searle

John Searle, ein Schüler Austins, hat die Theorie der Sprechakte weiterentwickelt und dabei fünf Hauptkategorien illokutionärer Akte formuliert. Diese Klassifikation ist besonders hilfreich, um die unterschiedlichen Funktionen von Sprache in sozialen Kontexten zu verstehen.

Assertive: Aussagen über die Welt

Assertive (auch Repräsentativa genannt) dienen dazu, einen Sachverhalt darzustellen oder eine Überzeugung zu äußern. Der Sprecher verpflichtet sich zur Wahrheit des Gesagten. Er ist also selbst davon überzeugt, dass die Äußerung wahr ist.

Beispiele:

  • Die Erde dreht sich um die Sonne.
  • Ich glaube, dass es regnet.

Funktion: Informationen geben, behaupten, festhalten, ausdrücken

Direktive: Aufforderungen und Bitten

Direktive Sprechakte sollen den Hörer zu einer Handlung bewegen. Der Sprecher versucht, Einfluss auf das Verhalten des Gesprächspartners zu nehmen. Er hat also einen Wunsch.

Beispiele:

  • Schließ bitte das Fenster.
  • Könntest du mir das Salz reichen?

Funktion: bitten, befehlen, auffordern, vorschlagen

Kommissive: Versprechen und Verpflichtungen

Kommissive drücken eine Selbstverpflichtung des Sprechers aus. Sie beziehen sich meist auf zukünftige Handlungen. Der Sprecher hat eine Absicht.

Beispiele:

  • Ich verspreche, pünktlich zu sein.
  • Ich werde dich morgen anrufen.

Funktion: versprechen, anbieten, drohen

Expressive: Emotionen und Einstellungen ausdrücken

Expressive Sprechakte offenbaren die Gefühle oder Einstellungen des Sprechers. Sie beziehen sich häufig auf einen bestimmten Sachverhalt.

Beispiele:

  • Ich freue mich, dich zu sehen.
  • Es tut mir leid, dass ich zu spät bin.

Funktion: danken, entschuldigen, gratulieren, trauern

Deklarative: Institutionelle Handlungen

Deklarative Sprechakte verändern durch das Aussprechen selbst einen Zustand. Sie benötigen meist ein bestimmtes institutionelles Setting und eine legitime Rolle des Sprechers.

Beispiele:

  • Ich erkläre euch zu Mann und Frau.
  • Hiermit sind Sie entlassen.

Funktion: ernennen, kündigen, eröffnen, taufen

Alltägliche Beispiele für Sprechakte

Sprechakte in Gesprächen

Sprache ist im Alltag voller Sprechakte, auch wenn wir sie nicht immer bewusst wahrnehmen. Schon einfache Sätze wie:

  • Ich danke dir!
  • Mach bitte die Musik leiser.
  • Viel Erfolg bei der Prüfung!

sind mehr als Worte. Sie sind Handlungen. Besonders spannend wird es, wenn ein Satz mehrere Bedeutungen haben kann, je nach Kontext und Tonfall.

Sprechakte im digitalen Raum (z. B. Social Media)

Auch in Textnachrichten, Tweets oder Kommentaren finden sich Sprechakte. Likes können als Zustimmung gelten, Emojis als Ausdruck von Gefühlen, Kommentare als Kritik oder Lob. Die digitalen Kommunikationsformen erweitern die Möglichkeiten sprachlicher Handlungen enorm und machen den Kontext noch wichtiger.

Sprechakte in der Sprachphilosophie und Pragmatik

Abgrenzung zur Semantik

Während sich die Semantik mit der wörtlichen Bedeutung eines Satzes oder Wortes befasst, geht es in der Pragmatik um die Bedeutung im Gebrauch. Ein und derselbe Satz kann, abhängig vom Kontext, verschiedene Illokutionen haben.

Beispiel: Es zieht.

  • Semantisch: Feststellung
  • Pragmatisch: Aufforderung, das Fenster zu schließen

Die Rolle von Kontext und sozialem Wissen

Um einen Sprechakt korrekt zu deuten, braucht man pragmatisches Wissen: Wer spricht? In welchem Verhältnis stehen Sprecher und Hörer? Was ist die Situation?

Nur so lassen sich Sprechakte verstehen und angemessen reagieren. Kommunikation ist eben weit mehr als Grammatik.

Kritik und Weiterentwicklung der Sprechakttheorie

Die Sprechakttheorie von Austin und Searle hat zweifellos großen Einfluss auf Linguistik, Philosophie und Kommunikationstheorie ausgeübt. Dennoch ist sie nicht ohne Kritik geblieben und wurde im Laufe der Zeit weiterentwickelt.

Kritikpunkte an Austin und Searle

  1. Eurozentrischer Fokus: Kritiker bemängeln, dass die Theorie auf westliche, vor allem englischsprachige Kommunikationsmuster ausgerichtet ist.
  2. Kontextvernachlässigung: In frühen Formen wurde der soziale Kontext nur unzureichend berücksichtigt. Erst spätere Theorien (z. B. Diskursethik) betonen die gesellschaftliche Einbettung stärker.
  3. Grenzen indirekter Sprechakte: Nicht alle indirekten Sprechakte lassen sich eindeutig einer illokutionären Klasse zuordnen, was die Klassifikation erschwert.
  4. Mehrdeutigkeit und Ironie: Ironie, Sarkasmus oder rhetorische Mittel können die Interpretation eines Sprechakts verfälschen oder bewusst unterwandern.

Weiterentwicklungen und Ergänzungen

  • Diskursethik (Habermas): Integriert Sprechakttheorie in ein Modell rationaler Kommunikation.
  • Relevanztheorie (Sperber/Wilson): Betont kognitive Prozesse bei der Interpretation von Sprechakten.
  • Politeness-Theorie (Brown/Levinson): Sprechakte in Bezug auf Höflichkeit und Gesichtsverlust.

Diese Ansätze zeigen, dass Sprache nicht nur ein Werkzeug der Mitteilung, sondern auch ein Mittel sozialer Machtausübung, Beziehungspflege und Identitätsbildung ist.

Häufige Missverständnisse rund um Sprechakte

Trotz ihrer breiten Anwendung wird die Sprechakttheorie oft falsch verstanden. Hier einige typische Irrtümer:

MissverständnisKorrektur
Jeder Satz ist ein Sprechakt.Nur wenn eine kommunikative Absicht und eine Handlung verbunden sind.
Sprechakte sind nur direkte Handlungen.Auch indirekte Aussagen („Es ist kalt hier“) können illokutive Kraft haben.
Der Sprechakt ist identisch mit dem gesprochenen Satz.Nein – Kontext, Intention und Wirkung sind entscheidend.
Nur performative Verben sind Sprechakte.Auch andere sprachliche Mittel können Handlungen vollziehen.

FAQ zu Sprechakten

Was ist ein Sprechakt in einfachen Worten erklärt?

Ein Sprechakt ist eine sprachliche Handlung. Wenn du sprichst, tust du oft mehr als nur Wörter benutzen. Du bittest, versprichst, warnst oder gratulierst. Sprache wird so zu einer Form des Handelns.

Was ist der Unterschied zwischen lokutionär, illokutionär und perlokutionär?

Lokutionär: Das, was tatsächlich gesagt wird.

Illokutionär: Die Absicht hinter dem Gesagten.

Perlokutionär: Die Wirkung auf den Hörer.

Warum sind Sprechakte wichtig für die Kommunikation?

Sie zeigen, dass wir mit Sprache handeln. Wer das versteht, kann Missverständnisse vermeiden und gezielter kommunizieren – z. B. in Beruf, Bildung und zwischenmenschlichen Beziehungen.

Was ist ein performativer Satz?

Ein Satz, mit dem durch das Aussprechen eine Handlung vollzogen wird. Beispiel: Ich verspreche dir…. Hier wird durch das Sagen selbst ein Versprechen gegeben.

Können auch Kinder oder Nicht-Muttersprachler Sprechakte ausführen?

Ja, sobald eine Person Sprache situationsangemessen einsetzt, vollzieht sie Sprechakte. Das ist unabhängig vom Alter oder Sprachniveau. Wichtig ist das Verstehen von Kontext und Absicht.

Wie erkenne ich die illokutionäre Funktion eines Satzes?

Achte auf den Kontext, den Tonfall, die Beziehung der Gesprächspartner und das Ziel der Aussage. Ein harmlos klingender Satz kann z. B. eine Aufforderung, Warnung oder Einladung sein.

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Was ist Pragmatik?

Die Pragmatik untersucht die Bedeutung von Sprach in ihrem Kontext. Was bedeuten Äußerungen, die in einer bestimmten Situation gesagt oder geschrieben wurden.

Über den Autor

Dieser Artikel wurde von Ralf Methling geschrieben. Er ist Dozent für Germanistische Linguistik und Fremdsprachendidaktik in den Niederlanden. Auf seinem YouTube-Kanal Linguistik einfach einfach und als Autor von linguistischer Fachliteratur publiziert er über Themen aus der Sprachwissenschaft.

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