Die Merkmalssemantik – auch Semanalyse oder Komponentenanalyse genannt – entstand in den 1960er Jahren. Sie verfolgt das Ziel, die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke in kleinste Bedeutungseinheiten, sogenannte Seme, zu zerlegen. Dies ermöglicht eine präzise Analyse, insbesondere dann, wenn zwei Wörter ähnlich erscheinen, sich aber in bestimmten Bedeutungsaspekten unterscheiden.
Was ist Semantik überhaupt?
Semantik ist der Zweig der Linguistik, der sich mit der Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken befasst. Während Syntax die Struktur von Sätzen untersucht und Phonologie sich mit Lauten beschäftigt, fragt die Semantik: Was bedeutet ein Wort oder Satz? Die Merkmalssemantik ist eine der Methoden, um diese Bedeutungsfragen systematisch zu beantworten.
Grundprinzipien der Merkmalsanalyse
Was ist ein Sem?
Ein Sem ist die kleinste Bedeutungseinheit eines sprachlichen Ausdrucks. Es ist vergleichbar mit einem Phonem (kleinste lautliche Einheit) oder Morphem (kleinste bedeutungstragende Einheit in der Morphologie). Jedes Wort oder Konzept lässt sich in eine Kombination von Semen zerlegen.
Binäre Struktur von Semen
Jedes Sem besitzt eine binäre Struktur: Es kann mit einem „+“ oder „–“ versehen werden. Zum Beispiel:
- [+männlich] = männlich
- [–männlich] = nicht männlich bzw. weiblich
Diese Darstellung ermöglicht klare Gegenüberstellungen und Ausschlüsse.
Die Idee des Archisem
Ein Archisem ist dasjenige Merkmal, das alle analysierten Begriffe gemeinsam haben. Es stellt die übergeordnete semantische Eigenschaft dar. Im Beispiel „Mann“, „Frau“, „Junge“, „Mädchen“ wäre das Archisem etwa [+belebt], da alle Begriffe lebende Wesen bezeichnen.
Aufbau einer Merkmalsmatrix
Regeln für die Erstellung semantischer Merkmalsmatrizen
Bei der Erstellung von Merkmalsmatrizen gelten drei Hauptregeln:
- Binärstruktur: Jeder Wert muss eindeutig + oder – sein.
- Universalität: Merkmale sollen kultur- und sprachübergreifend gelten.
- Minimalismus: Nur so viele Merkmale wie nötig verwenden – keine überflüssigen Semen!
Beispielanalyse: Mann, Frau, Junge, Mädchen
Begriff | +belebt | +männlich | +erwachsen |
---|---|---|---|
Mann | + | + | + |
Frau | + | – | + |
Junge | + | + | – |
Mädchen | + | – | – |
Durch diese Matrix lassen sich die Begriffe sauber voneinander trennen.
Semem vs. Sem

Ein Semem ist die Gesamtheit aller Semen eines Begriffs. Es bildet quasi die „Bedeutungsversion“ eines Moleküls, dessen „Atome“ die einzelnen Semen sind.
Anwendungsbeispiele der Merkmalssemantik
Verwandtschaftsbezeichnungen im Deutschen
Verwandtschaftsbegriffe wie „Vater“, „Mutter“, „Eltern“, „Tante“ oder „Onkel“ lassen sich ideal durch Semen unterscheiden. Hierbei können Merkmale wie [+männlich], [+direkt verwandt], [+älter] verwendet werden. Besonders hilfreich ist dies bei der maschinellen Sprachverarbeitung, etwa bei Übersetzungsprogrammen.
Semantische Unverträglichkeiten im Alltag
Ein Beispiel für semantische Unverträglichkeit liefert der Satz: „Ein Wagen fuhr blitzeschnelle langsam um die Ecke.“ Obwohl grammatisch korrekt, ist der Satz inhaltlich widersprüchlich. Der Ausdruck „blitzeschnell“ trägt das Sem [+schnell], „langsam“ dagegen [–schnell] – ein klassischer Fall semantischer Inkompatibilität.

Das Paradoxon im Gedicht: „Dunkel war’s…“
Das berühmte Gedicht, in dem paradoxe Beschreibungen wie „stehend sitzen“ oder „blitzeschnell langsam“ verwendet werden, illustriert die Bedeutungskonflikte, die die Merkmalssemantik sichtbar macht. Sie erklärt, warum bestimmte Kombinationen keinen Sinn ergeben – trotz grammatischer Korrektheit.
Vorteile der Merkmalssemantik
Systematische Bedeutungsunterscheidung
Die Merkmalssemantik erlaubt es, Wortbedeutungen exakt voneinander abzugrenzen – ideal für Sprachvergleich, Lexikographie und Sprachdidaktik.
Hilfe bei maschineller Sprachverarbeitung
In Bereichen wie künstlicher Intelligenz und maschineller Übersetzung sind präzise Bedeutungsunterscheidungen essenziell. Die Merkmalssemantik bietet hier eine stabile Grundlage.
Grenzen und Kritik an der Merkmalssemantik
Schwierigkeit bei abstrakten Begriffen
Begriffe wie „Liebe“, „Freiheit“ oder „Genuss“ lassen sich schwer in binäre Semen aufteilen. Die Methode ist daher besser für konkrete, beschreibbare Begriffe geeignet.
Kulturelle und sprachliche Unterschiede
Nicht alle Merkmale lassen sich universell auf alle Sprachen anwenden. In manchen Kulturen gibt es Begriffe, die im Deutschen gar nicht existieren – oder umgekehrt.
Alternative Theorien der Bedeutungsanalyse
Die Prototypentheorie oder kognitive Semantik sind moderne Alternativen, die flexibler mit Bedeutung umgehen und kulturelle Kontexte stärker berücksichtigen.