Hast du dich jemals gefragt, wie sich Sprache eigentlich verändert? Wörter, Bedeutungen, sogar die Grammatik – all das ist im Fluss. Aber warum ist das so? Und wer oder was steuert diesen Wandel? Wenn du denkst, da steckt ein großer Plan dahinter oder es ist einfach „Natur“, dann lass dich von der faszinierenden Theorie des Sprachwissenschaftlers Rudi Keller überraschen. Er bezeichnet Sprache als ein Phänomen der dritten Art und erklärt den Sprachwandel mit seiner Idee der unsichtbaren Hand. Klingt geheimnisvoll? Ist es aber gar nicht! Im Gegenteil, du wirst sehen, dass diese Konzepte erstaunlich logisch sind und dir helfen, Sprachwandel völlig neu zu verstehen. Und ganz nebenbei erfährst du auch, was das alles mit Verkehrsstaus und Trampelpfaden zu tun hat.
Was ist Sprache eigentlich? Ein kleiner Ausflug ins DWDS
Bevor wir tief in Kellers Theorie eintauchen, lohnt es sich kurz zu fragen: Was ist Sprache überhaupt? Laut dem renommierten Wörterbuch DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) wird Sprache als das menschliche Vermögen beschrieben, sich verständlich zu machen, also sich in Lauten, Wörtern und Zeichen auszudrücken. Es ist auch das System aus Lauten, Wörtern und Grammatik, das wir nutzen, um miteinander zu kommunizieren. Schon im Althochdeutschen (sprāhha) und Mittelhochdeutschen (sprâche) bezeichnete das Wort das Sprechen oder die Äußerung selbst und ist eng mit dem Verb „sprechen“ verwandt. Du siehst also, Sprache ist sowohl eine Fähigkeit als auch ein komplexes System.
Die drei Arten von Phänomenen nach Rudi Keller
Um zu verstehen, was Keller mit „Sprache als Phänomen der dritten Art“ meint, müssen wir uns zuerst ansehen, welche anderen Arten von Phänomenen er unterscheidet:
Phänomene der ersten Art: Naturphänomene
Stell dir vor, du schaust in den Himmel und siehst Wolken, oder du gehst durch einen Wald und siehst Bäume und Blumen. Das sind Naturphänomene. Sie existieren einfach so, ohne dass ein Mensch eingegriffen oder sie absichtlich geschaffen hätte. Regen fällt, Blüten wachsen – das sind Prozesse, die von der Natur selbst gesteuert werden und nicht von menschlichem Willen abhängen.
Phänomene der zweiten Art: Artefakte (Menschengemachtes)
Dann gibt es Dinge, die ganz klar von Menschen gemacht wurden. Ein Auto, ein Fahrrad, ein Hochhaus – das sind alles Artefakte. Sie wurden von jemandem mit einer ganz bestimmten Absicht entworfen und gebaut. Hier gab es einen Plan, ein Ziel, eine bewusste Entscheidung, etwas zu erschaffen.
Warum Sprache weder das Eine noch das Andere ist: Die Sprache der dritten Art
Und hier wird es spannend: Rudi Keller sagt, Sprache ist keines von beiden. Sie ist ein Phänomen der dritten Art. Warum? Lass uns das mal genauer beleuchten:
- Kein Naturphänomen: Sprache existiert nicht einfach so, unabhängig von uns Menschen. Würden wir sie nicht nutzen, um zu kommunizieren, würde sie aussterben. Sie braucht uns, um lebendig zu sein.
- Kein Artefakt: Wir haben natürliche Sprachen wie Deutsch, Englisch oder Chinesisch nicht absichtlich „erfunden“ oder bewusst „gebaut“. Niemand hat sich hingesetzt und gesagt: „So, jetzt legen wir mal fest, welche grammatischen Regeln es gibt oder welche neuen Wörter wir brauchen.“ Sprache entsteht vielmehr organisch, quasi „einfach so“ durch Gebrauch und entwickelt sich ständig weiter, ohne dass eine zentrale Instanz sie gezielt steuert.
Keller beschreibt ein Phänomen der dritten Art als die „kausale Konsequenz einer Vielzahl individueller intentionaler Handlungen, die mindestens partiell ähnlichen Intentionen dienen“. Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: Wir nutzen Sprache mit einer Absicht – zum Beispiel, um uns mitzuteilen. Aber unsere Absicht ist dabei nicht, die Sprache selbst zu verändern. Trotzdem passiert genau das: Sie verändert sich ständig, als unbeabsichtigte Folge unserer täglichen Kommunikation.
Die Theorie der Unsichtbaren Hand und Sprachwandel
Genau an diesem Punkt kommt Kellers Theorie der unsichtbaren Hand ins Spiel, die er aus der Wirtschaftswissenschaft entlehnt hat. Diese Metapher besagt, dass Sprachwandel nicht durch bewusste Planung oder das gezielte Eingreifen einer einzelnen Person entsteht. Stattdessen ist er das Ergebnis unzähliger individueller Handlungen, die jeweils eine eigene, vordergründige Absicht haben – aber eben nicht die Absicht, Sprache zu verändern.
Nehmen wir das Wort „geil“ als Beispiel, das du vielleicht kennst. Im Mittelalter bedeutete es noch „froh“ oder „gut gelaunt“. Heute verwenden wir es aber in ganz anderen Kontexten: für „sexuell erregt“ oder auch für „großartig“ und „toll“. Dieser Bedeutungswechsel passierte nicht, weil jemand beschloss, die Bedeutung von „geil“ zu ändern. Er entstand, weil viele Menschen das Wort in verschiedenen Situationen verwendeten, um zum Beispiel etwas besonders Positives auszudrücken. Jede einzelne dieser Verwendungen hatte die Absicht, etwas Großartiges zu beschreiben, nicht aber, die Sprache zu revolutionieren. Doch die Summe dieser individuellen, absichtsvollen Handlungen führte zu einem Wandel, den niemand gezielt herbeiführen wollte. Das ist die Wirkung der unsichtbaren Hand in der Sprache.
Alltagsbeispiele: Was Staus und Trampelpfade mit Sprache verbindet
Keller verdeutlicht seine Theorie der Sprache der dritten Art und der unsichtbaren Hand oft mit Beispielen aus dem Alltag, die auf den ersten Blick nichts mit Sprache zu tun haben: Verkehrsstaus und Trampelpfade. Und du wirst überrascht sein, wie gut sie passen:
- Verkehrsstaus: Niemand möchte einen Stau verursachen, oder? Und doch entstehen sie. Wie? Stell dir vor, ein Fahrer bremst plötzlich ab, vielleicht, weil er sich erschreckt hat. Das Auto dahinter bremst ein bisschen stärker, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Das nächste Auto bremst noch stärker, und so weiter. Jede Bremsaktion ist eine absichtsvolle Reaktion, um einen Unfall zu verhindern. Aber die unabsichtliche, kollektive Konsequenz dieser vielen Einzelhandlungen ist der Stau.
- Trampelpfade: Kennst du das, wenn in einer Grünfläche quer über den Rasen ein Pfad entsteht, obwohl es offizielle Wege gibt? Diese Trampelpfade werden nicht geplant oder bewusst angelegt. Sie entstehen, weil viele einzelne Menschen eine Abkürzung nehmen oder einen Weg wählen, der ihnen kürzer oder effizienter erscheint. Ihre Absicht ist es, schneller ans Ziel zu kommen, nicht aber, einen neuen Pfad zu schaffen. Doch die Summe dieser vielen individuellen Entscheidungen führt zur Entstehung des Trampelpfades.
Genauso wie Staus und Trampelpfade entstehen, ohne dass jemand sie bewusst plant, wandelt sich auch Sprache. Es ist das Ergebnis unzähliger kleiner, individueller Kommunikationsakte, die alle ihre eigenen, vordergründigen Ziele haben, aber als Nebeneffekt die Sprache verändern. Das ist die Eleganz und die Kraft von Kellers Theorie.
Fazit: Sprachwandel als unbeabsichtigtes Meisterwerk
Du siehst also: Die Idee der Sprache als Phänomen der dritten Art und die Theorie der unsichtbaren Hand nach Rudi Keller bieten eine faszinierende Erklärung für Sprachwandel. Sprache ist kein statisches Gebilde, sondern ein dynamisches System, das sich ständig weiterentwickelt – nicht durch zentrale Steuerung, sondern durch die kollektiven, aber unbeabsichtigten Konsequenzen unserer täglichen Kommunikation. Es ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie aus vielen kleinen, individuellen Handlungen etwas Großes und Ungeplantes entstehen kann. Denk beim nächsten Mal, wenn du ein Wort in einem neuen Kontext hörst oder sich eine Regel zu ändern scheint, an die unsichtbare Hand – sie ist immer am Werk!
Quellen
Bechmann, S. (2016). Sprachwandel – Bedeutungswandel: Eine Einführung (1. Aufl.). Narr Francke Attempto Verlag. https://doi.org/10.36198/9783838545363
- Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. (2025). Sprache. In DWDS. Abgerufen am 4. August 2025, von https://www.dwds.de/wb/Sprache
Keller, R. (2014). Sprachwandel: Von der unsichtbaren Hand in der Sprache (4., unveränderte Aufl.). Narr Francke Attempto Verlag. https://doi.org/10.36198/9783838542539
- Willich, A. (2025, 3. August). Sprache als Phänomen der DRITTEN ART und die Theorie der UNSICHTBAREN HAND nach Rudi Keller [Video]. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=GjbLgxOeNOo